Am Montagabend konnte Nationalrätin Regine Sauter, Direktorin der Zürcher Handelskammer, gut hundert Anwesende im Zürcher Widder Saal zu einem spannenden europapolitischen Diskussionsabend begrüssen. Den Auftakt machte danach Jan Atteslander, Leiter Aussenwirtschaft bei economiesuisse. Er wies in seinem Inputreferat daraufhin, dass die EU nach wie vor der Heimmarkt der Schweizer Wirtschaft sei. Das bestätigen die Zahlen zum Handelsvolumen eindrücklich: 2020 handelte die Schweiz mit der EU Waren im Wert von über 230 Milliarden Franken. «Sie ist damit die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz, der Handel mit anderen Ländern wie etwa den USA oder China könnte ihren Verlust nicht aufwiegen», erklärte Atteslander. Momentan stellt dies noch keine konkrete Gefahr dar. Noch sind die bilateralen Abkommen in Kraft. Dies könnte sich künftig aber ändern. Können die Bilateralen nicht aktualisiert und weiterentwickelt werden, wird ihre Bedeutung schwinden - und mit ihnen die Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt. Atteslander hält dazu fest: «Eine Erosion der Bilateralen ist klar die schlechteste Option.» Dies schwäche aber nicht nur die Schweiz sondern auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU.
Tragfähige Lösung gelingt nur über öffentliche Debatte
Weitere Optionen wie ein erweitertes Freihandelsabkommen oder einen EWR-Beitritt stellte Matthias Oesch, Professor für Europarecht an der Uni Zürich vor. Um diese einschätzen zu können, müsse jedoch zuerst ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden. «Die EU ist heute nicht mehr die gleiche wie jene, mit der die Schweiz die Bilateralen abgeschlossen hat», so Oesch. Den neuen Mitgliedstaaten, welche seit 2006 beigetreten sind, habe die EU keine Ausnahmeregelungen zugestanden. «Sie haben einen anderen Blick auf die Schweiz und werden keine Sonderbehandlung akzeptieren. Zumal der Brexit die Grundprinzipien der EU nochmals deutlich bestätigt hat und somit zu erwarten ist, dass die EU auch künftig nicht von ihnen ablässt.»
Genau darin liegt aus Sicht von Oesch die Herausforderung für die Schweiz: Sie muss sich entscheiden, ob sie weiterhin versuchen will, Rosinen zu picken oder die Gesetze mitzugestalten. Letzteres wäre mit dem Entwurf des Rahmenabkommens von 2018 möglich gewesen. Darin enthalten war allerdings auch die dynamische Rechtsübernahme und ein Streitbeilegungsverfahren mit starker Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Während konservative Kreise darin einen Souveränitätsverlust witterten, sieht Oesch dies als unproblematisch an: «Der EuGH legt das Binnenmarktrecht objektiv und unparteiisch aus. Er entscheidet nicht gegen die Schweiz.» Nichtsdestotrotz müsse dieses Unbehagen aufgefangen werden, und das sei nur mit einer öffentlichen Debatte möglich.
Ersatzprogramme können Lücke nicht schliessen
Kernstück des Abends war eine spannende Diskussionsrunde mit Jan Atteslander, Prof. Gian-Luca Bona (Direktor der Empa), Lucia Döbeli (Senior Director Government Affairs & Policy bei Johnson & Johnson) und Sanija Ameti (neue Co-Präsidentin der Operation Libero). Dabei wurde rasch klar, dass der Schuh in der Europapolitik an verschiedenen Orten drückt, unter anderem im Forschungsbereich. «Schweizer Startups und die Umsetzungsforschung sind von den europäischen Forschungsprogrammen zu grossen Teilen ausgeschlossen», erklärte Bona. Mit dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen rücke eine Vollassoziation beim europäischen Forschungsrahmenprogramm «Horizon Europe» in weite Ferne. Diese verpasste Chance lasse sich zum Leidwesen vieler Schweizer Forschenden auch nicht mit anderen Kooperationsprogrammen ausgleichen.
Probleme der Medtech-Branche sind nicht augenblicklich lösbar
Aufgrund des gescheiterten Rahmenabkommens versäumte Gelegenheiten gibt es auch im Medtech-Bereich. So wurde das «Mutual Recognition Agreement», welches die gegenseitige Anerkennung der Zertifizierung von Medizinprodukten in der Schweiz und der EU regelt, im Mai auf Eis gelegt. Seither gilt die Schweiz im Medtech-Bereich als Drittstaat. Zwar gibt es zurzeit Übergangslösungen für bereits zugelassene Produkte, die vorübergehend Abhilfe schaffen. «Doch es sind längst nicht alle Probleme auf die Schnelle lösbar», sagt Lucia Döbeli. Durch die Rechtsunsicherheit kämen gerade beim Import von neuen Medizinprodukten grössere Engpässe auf die Branche zu.
«Fakt ist: Wir sind mitten in Europa»
Der Meinung, dass der Zugang zum Binnenmarkt dringend gesichert sein muss, ist auch Sanija Ameti. Nicht ganz so dringlich sieht das der Bundesrat, er will sich den institutionellen Fragen erst 2024 stellen. Das will die neue Co-Präsidentin von Operation Libero nicht einfach so hinnehmen: «Die geopolitische Realität können wir nicht ändern, denn Fakt ist: Wir sind mitten in Europa.» Deshalb hat Operation Libero nun zusammen mit den Grünen eine neue Europe-Initiative lanciert, die dem Bundesrat maximal drei Jahre geben will, um die Beziehungen zur EU vertraglich zu regeln. «Zweck der Initiative ist, dass wir über die Souveränitätsfrage zu diskutieren beginnen», erklärt sie. Auch wenn man sich im Widder Saal nicht einig war, ob dies der richtige Weg hin zu einer tragfähigen europapolitischen Lösung sein kann – dass die breite politische Debatte keinen weiteren Aufschub duldet, blieb unbestritten.