Die Schweizer Bevölkerung wächst rasant: Gerade einmal 12 Jahre benötigte das Land für die letzte Million. Gleich lange wie für das Erreichen der 6-Millionen-Marke in den rekordverdächtigen 1960er Jahren – eine Zeit mit nicht minder kontroversen Zuwanderungsdebatten. Obschon viele erfolgreiche Länder wachsen, ist das hiesige Ausmass auch im internationalen Vergleich gross. Während etwa Deutschland praktisch stagniert, schrumpfte Italien zuletzt sogar. Dabei scheint glücklich, wer über «zu viel» Wachstum klagen kann. Eine schrumpfende Bevölkerung und eine stagnierende Wirtschaft bringen weit grössere (Verteilungs-)Konflikte mit sich.
Zuwanderung als Folge des Schweizer Jobwunders
Die Bevölkerung wächst einzig dank Zuwanderung. Ohne Einbürgerungen würde die Zahl der Schweizer Staatsbürger seit Beginn der 1990er Jahre schrumpfen. Als Magnet wirken nicht zuletzt attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze. Jeder zweite wandert aufgrund eines Stellenantritts in die Schweiz ein; aus Europa sind es sogar zwei Drittel der Neuzuwanderer. Der teilweise mit der Erwerbstätigkeit verbundene Familiennachzug (30%) und die Ausbildung (10%) folgen auf Rang 2 und 3 der Einwanderungsmotive.
Die Alterung ist nicht der massgebende Treiber für die vielen offenen Stellen. Die Hauptursache liegt in einer dynamischen Wirtschaft, die jedes Jahr 50’000 zusätzliche Jobs schafft – zuletzt sogar noch mehr. Während Zuwanderer in der Vergangenheit zwei Drittel dieser neuen Stellen besetzten, war für ein weiteres Drittel die höhere Arbeitsmarktpartizipation besonders der Frauen verantwortlich. Eine noch bessere Ausschöpfung des inländischen Potenzials ist schwierig und teuer.
Wächst die Wirtschaft nur noch in die Breite?
Das Schweizer Jobwunder ist «nur» zur Hälfte dafür verantwortlich, dass die reale Wirtschaftsleistung heute 50% höher ist als im Jahr 2000. Die andere Hälfte wird durch ein jährliches Produktivitätswachstum von rund 1% erklärt – ein im internationalen Vergleich hoher Wert. Von der Produktivität getrieben, wuchs die Wirtschaftsleistung pro Kopf in derselben Periode um rund einen Viertel – nur ganz wenige vergleichbare Länder (insbesondere die USA und Schweden) entwickelten sich besser. Was dabei häufig vergessen geht: Die Schweiz wächst auf hohem Niveau. Selbst wenn andere Länder schneller wachsen, können sie die absolute Wohlstands-Lücke zur Schweiz kaum verringern.
Mit der Wirtschaft wuchsen auch die Löhne: real plus 17% seit dem Jahr 2000 (Medianlohn). Dazu kommen leicht sinkende Arbeitszeiten – auch pro Vollzeitstelle. Und: Das Wachstum bescherte dem Staat stetig steigende Steuereinnahmen.
Die gute Entwicklung kaschiert jedoch, dass sich das Wachstum auf einzelne Branchen konzentriert. Vielerorts zeigt sich eine stagnierende oder sogar negative Produktivitätsentwicklung. Aus dem Rahmen fällt die pharmazeutische Industrie. Nirgendwo sonst wird pro Arbeitsplatz auch nur annähernd so viel Wertschöpfung generiert. Die Branche ist für die Hälfte des Schweizer Wachstums verantwortlich.
In kaum einer anderen Branche zeigt sich zudem die Bedeutung der Zuwanderung besser. Ausländerinnen und Ausländer waren für die Gründung vieler der bedeutendsten Pharmaunternehmen – darunter Roche, Novartis und Lonza – (mit-)verantwortlich und stellen die Mehrheit der Arbeitskräfte in den jeweiligen Unternehmen.
Auch heute sind Menschen ohne roten Pass an 3 von 4 Startup-Gründungen beteiligt. Dank ihnen schafft es die Schweiz, sich laufend neu zu erfinden, zukunftsfähige Branchencluster zu etablieren und den Strukturwandel erfolgreich zu bewältigen. Dafür braucht es eine kritische Grösse an hochqualifizierten Fachkräften, die ohne Zuwanderung nicht zu stemmen ist. Das hiesige demografische Potenzial ist seit jeher zu klein für die Schweizer Wirtschaftskraft.
Die Bedeutung der Zuwanderung zeigt sich ebenso auf der anderen Seite des Wertschöpfungsspektrums: So wird etwa auch im Bau oder Gastgewerbe jeder zweite Arbeitsplatz durch Ausländer ausgefüllt – Jobs, die viele Schweizer meiden. Stattdessen arbeiten die Einheimischen verstärkt in der Verwaltung oder in staatsnahen Sektoren. Je nach Sichtweise sieht man darin eine für beide Seiten positive «Arbeitsteilung» oder aber eine gefährliche «Dubaiisierung» der Schweiz.
Negative Effekte des Wachstums
Das starke Bevölkerungswachstum hat seinen Preis. Dieser ist in der Schweiz weniger kultureller Natur, ist die Zuwanderung doch überdurchschnittlich europäisch geprägt. Von grösserer Bedeutung sind «Füllungskosten»: Der Boden wird knapper, die Infrastruktur ist überlastet, Wohnen wird teurer.
Der Personenverkehr auf der Schiene stieg beispielsweise im Vergleich zum Jahr 2000 um fast 80%, die Staustunden auf den Nationalstrassen sogar um den Faktor 5. Das hat mit der Zuwanderung zu tun, aber nicht nur. Die Mobilität hat sich vom Bevölkerungswachstum längst entkoppelt. Der nötige Kapazitätsausbau wird derweil immer schwieriger und teurer – und finanziell von allen Ansässigen geschultert.
Dazu kommen träge Strukturen, die verhindern, dass die «Wachstumsschmerzen» effizient und effektiv angegangen werden können. So führt fehlende Kostenwahrheit zu einer Übernachfrage; der Ausbau findet angesichts regionalpolitisch geprägter Investitionsentscheide nicht primär dort statt, wo die grössten Engpässe liegen. Ähnlich gelagert sind die Probleme bei der fortschreitenden Zersiedelung: Während viele Baulandreserven am falschen Ort liegen, opponiert die Bevölkerung in den Städten gegenüber stärkerer Verdichtung.
Für den «Dichtestress» wie auch die gesamte Diskussion gilt: Es gibt kein objektiv bestimmbares Optimum an Zuwanderung oder Bevölkerungswachstum. Viele Nachteile des Wachstums sind subjektiver Natur, aber deshalb nicht minder wichtig. Die Nettobilanz fällt entsprechend individuell unterschiedlich aus. Klar scheint nur: Beim aktuellen Tempo des Bevölkerungswachstums rücken die negativen Effekte in den Vordergrund, die Kosten-Nutzen-Bilanz verschlechtert sich.
Während auch in diesem Jahr eine hohe Nettomigration verzeichnet wird, ist die Entwicklung ungewiss. So bleibt die Schweiz für Ausländer etwa wegen der hohen Lohndifferenzen zwar attraktiv. Gleichzeitig wird es schwieriger, aus Europa Arbeitskräfte zu rekrutieren, weil die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft.
Möchte man die Standortattraktivität nicht fahrlässig aufs Spiel setzen, sind primär drei Antworten auf das Wachstum denkbar: Erstens kann man versuchen, innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens drosselnd auf die Zuwanderung einzuwirken (zum Beispiel beim Familiennachzug aus Drittstaaten). Der Spielraum ist beschränkt – der Elefant im Raum bleibt die Personenfreizügigkeit, weil sie das Zuwanderungsgeschehen dominiert. Zweitens lassen sich die negativen Effekte des Wachstums direkt adressieren, etwa durch Infrastrukturausbau und bessere Raumordnung. Diesen Massnahmen sind indes natürliche und politische Grenzen gesetzt.
Zuwanderung steuern – aber wie?
Drittens liesse sich die Zuwanderung über einen anderen Steuerungsmechanismus reduzieren. Dies ist aber leichter gesagt als getan. Andere Staaten hadern trotz anderer Systeme genauso mit der Zuwanderung: Überall kommen entweder «zu viele», «zu wenige» und/oder «die Falschen». Das gilt auch für angebliche Vorzeigeländer wie Grossbritannien (wo seit dem Brexit die Zuwanderungszahlen in die Höhe schnellen) oder Australien (wo die Wirtschaft trotz einem Punktesystem die notwendigen Arbeitskräfte nicht findet).
Hierzulande geht oft vergessen, wie bürokratisch, strukturerhaltend und wachstumshemmend die (schlecht qualifizierte) Zuwanderung im Kontingentsystem vor der Personenfreizügigkeit wirkte. Viel Anlass zur Hoffnung bietet deshalb auch die gegenwärtig diskutierte Schutzklausel mit Höchstzahlen nicht.
Wer die Zuwanderung effektiv begrenzen will, sollte zumindest auf ein möglichst effizientes Instrument setzen. Dies könnte eine Steuerung über den Preis mittels Zuwanderungsabgabe sein. Zugleich sollte man sich keine Illusionen machen: Eine solche Abgabe dürfte das Ende der bilateralen Verträge mit der EU bedeuten.